Ökosystem-Baumeister im Mehrfach-Stress

Fallbeispiel

Wenn an den steinigen Küsten der Ostsee artenreiche Lebensgemeinschaften entstehen, hat der Blasentang Fucus vesiculosus perfekte Basisarbeit geleistet. Indem er Kiesel und Felsen entlang der Küsten dieses Binnenmeeres besiedelt, schafft er Heimat und Schutz für kleine Krebse, Muscheln, Schnecken, Algen und sogar Fische. Weil in der jungen und brackwasserhaltigen Ostsee weniger Tiere und Pflanzen als in anderen Meeresgebieten leben, sind nur einzelne Schlüsselarten für das Funktionieren dieses Öko­­systems verantwortlich – etwa Fucus vesiculosus.

Blasentang setzt einen Großteil der im Meerwasser enthal­tenen Nährstoffe um und trägt maßgeblich zur Produktion von organischem Material bei. Dadurch treibt er die biogeochemischen Kreisläufe der Ostsee an. Interaktionen zwischen den Arten sind fein darauf abgestimmt, das System aufrechtzuerhalten. Wird ein Bestandteil durch den Klimawandel beeinträchtigt, wirkt sich dies sowohl auf das System als auch auf dessen Funktionen für uns Menschen aus.

BIOACID-Forschende untersuchten, wie sich verändernde Umweltfaktoren, etwa eine Zunahme der Kohlendioxid-Konzentrationen, Erwärmung oder Überdüngung, die Fucus-Gemeinschaften beeinflussen. Dafür überführten sie den Tang und mit ihm zusammenlebende Arten wie kleinere epiphytische – auf ihm wachsende – Algen, Weidegänger wie kleine Krebse und Wasserschnecken sowie Muscheln in große Experimentiertanks.

In einer Serie jahreszeitlicher Versuche setzten sie die Lebensgemeinschaften verschiedenen Kombina­tionen von heutigen und zukünftigen Wassertemperaturen und Kohlendioxid-Konzentrationen aus. Zusätzlich steigerten sie die Nährstoffzufuhr.

Die Ergebnisse verdeutlichen die kombinierten und jahreszeitlich unterschiedlichen Auswirkungen verschiedener Umweltfaktoren: Bei gegenwärtigen Wassertemperaturen wirkt sich Ozeanversauerung fast gar nicht aus. Eine Erwärmung bedeutet hingegen immensen Stress – umso mehr in Kombination mit steigendem Nährstoffgehalt und in einigen Fällen auch steigenden Kohlendioxid-Konzentrationen. Vor allem während der Sommermonate können die biologischen Wechselbeziehungen gestört werden: Die erhöhten Temperaturen schwächen das chemische Abwehrsystem des Fucus gegen die epiphytischen Algen, während die Algen selbst von der Erwärmung, dem Nährstoffzuwachs und dem zusätz­lichen Kohlendioxid profitieren. Die Weidegänger, welche die aufwachsenden Algen natürlicherweise abgrasen, sterben bei hohen Sommertemperaturen. Letztlich erstickt der Fucus als fundamentbildende Art aufgrund der Blüte der Epiphyten, die durch die Erwärmung vom Fraßdruck der Weidegänger befreit sind. So können Veränderungen in den Interaktionen zwischen Arten den Gesamteinfluss des Klimawandels auf marine Lebensgemeinschaften beeinflussen.

Überdüngung ist eines der ältesten Umweltprobleme im Meer. Die Ostsee gilt seit den 1960er-Jahren als eutroph, also reich an Nährstoffen. Bislang haben europäische Richt­linien zum Wassermanagement ihr Ziel eines guten chemischen und ökologischen Zustands nicht vollständig erreicht. Das Experiment zeigt, dass lokale Faktoren die Folgen globaler Einflüsse wie Temperaturanstieg verstärken können. Diese lokalen Stressoren zu verringern, würde Schlüssel­arten der Ostsee wie Fucus vesiculosus helfen, besser mit dem globalen Klimawandel zurecht zu kommen und ihre wich­tigen Ökosystem-Funktionen zu erhalten.

Mehr über BIOACID-Forschung zu Fucus-Gemeinschaften in der Ostsee in diesem Video-Porträt über Angelika Graiff.


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